Reto: Mehr und Mehr
Im Rückblick auf meine Kindheit kann ich sagen,
dass es eine glückliche Zeit war, obwohl mein Vater immer wieder
im Ausland arbeitete und meine Mutter, mein Bruder und ich oft alleine
waren. Ich begann mit 16 in Winterthur eine Malerlehre. Ich war
stets ein fröhlicher, mit Humor ausgerüsteter Mensch.
Auch war ich begeisterter Sportler, rauchte selbstverständlich
nicht und war sowieso gegen Drogen. Fussball und Hockey waren meine
Leidenschaften und ich reiste in der ganzen Schweiz umher, um meine
Idole zu sehen und anzufeuern.
Alle Probleme und Sehnsüchte weg
Gegen Ende der Lehre wurde mir in einer Disco ein
Joint angeboten. Weil ich dazugehören wollte, rauchte ich diesen
wenn auch mit Angst. Doch ich beruhigte mich ich hatte
ja das Leben eh im Griff, und es würde sowieso bei diesem einen
Mal bleiben. Doch an diesem Abend fühlte ich mich irgendwie
anders. Alle Lebensfragen, Probleme und Sehnsüchte waren weg,
ich fühlte Frieden und es war alles so leicht und lustig. Leider
war dieses Hochgefühl am andern Tag wie weggeblasen.
Plötzlich fragte ich mich: Kann denn ein normaler
Mensch arbeiten, schlafen, arbeiten und dazwischen mal Hockey? Und
das bis 65! Nein danke!
So begann ich hie und da Haschisch zu rauchen und
trank immer noch Bier dazu. Diese Kombination verschaffte mir die
nötige Leichtigkeit. Ich schob alle Probleme zur Seite und
absolvierte den Rest der Lehre und die Rekrutenschule. Viele meiner
Kollegen konsumierten harte Drogen, aber da war ich strikt dagegen,
ja ich verurteilte sie deswegen.
Platzspitzerfahrungen
Ich hatte Arbeit, Auto, Freundin, aber Hasch und
Alkohol fuhren nicht mehr so stark ein. Nachdem die Beziehung zu
meiner Freundin platzte, war ich so weit, dass ich für eine
Woche Heroin sniffte. Auf dem Platzspitz gefiel es mir sofort
alle im gleichen Dreck. Zwar hatte ich Angst vor Spritzen, verabscheute
die Fixer, und doch hielt ich mich immer mehr bei ihnen auf. Nach
der einen Woche fühlte ich mich ohne Stoff elend und begann
auch bald zu spritzen. Ich hatte viel Geld, konnte also Heroin,
Kokain und Hasch auch während der Arbeit konsumieren. Ich dachte
"in" zu sein und glaubte, jederzeit aufhören zu können.
Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich immer tiefer sank. Ich spritzte
bald auch während der Arbeit, belog meine Eltern und lehnte
jede Hilfe ab. Im Dezember 1992 bekam ich Gelbsucht und hörte
für eine Zeit lang auf zu arbeiten. In dieser Zeit brach mein
Bruder seine Lehre ab und begann am Letten zu leben.
Alles musste in die Venen
So frei wie mein Bruder wollte ich auch sein
ohne Autoritäten, ohne Arbeit. Ich begann zu dealen, konsumierte
Drogen und Schlafmittel, ja es musste einfach alles in die Venen.
Ich lernte dort auf der Gasse einen Franziskaner, Bruder Leonhard,
kennen. Der redete und betete mit den Süchtigen und brachte
ihnen echte Liebe entgegen. Auch ein anderer christlicher Gassenarbeiter
begegnete mir einige Male und sprach mich immer mit Reto an. Auch
wenn er mich lange nicht mehr traf, wusste er meinen Vornamen noch,
was mich jedes Mal erstaunte.
Reto, das bist nicht du
Zu Hause hatte meine Mutter die Nase voll. Überall
Blut, Nadeln und Stoff machten ihr Angst. Sie sagte immer: "Vom
lebensfrohen Reto zum hasserfüllten Junkie. Reto, das bist
nicht du." Sie warf mich deshalb raus, was das einzig Richtige
war. Trotz Methadon wurde es mit mir nicht besser. Ich lebte auf
der Gasse und in Notschlafstellen. Schliesslich wurde ich in Winterthur
verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe bzw. einem Massnahmevollzug
verurteilt.
Durch den Sunne-Egge von Pfarrer Sieber, wo ich mein Methadon abholte,
hörte ich von einem christlichen Therapiehaus. Verladen mit
Rohypnol und Drogen sprach ich dann dort vor, hatte aber Stunden
später keine Ahnung mehr von diesem Gespräch.
Wie durch ein Wunder fand ich am Eintrittsdatum
den Weg doch wieder in dieses Therapiehaus. Hier bewältigte
ich dann den Methadonabbau und fühlte mich ganz wohl. Mein
Bild, das ich mir von Christen bis dahin gemacht hatte, musste ich
gründlich revidieren. Ich erlebte in diesem Therapiehaus Menschen
mit Lebensfreude und Humor.
Leben als Schafhirt
Schliesslich erkannte ich, dass ich viel Schuld
auf mich geladen hatte. Ich wollte mit Gott ins Reine kommen und
bekannte ihm meine Sünden. Ich wollte mit der Hilfe Gottes
weiterleben. Anfangs machte ich in der Therapie gute Fortschritte,
so dass ich bald in die Toscana durfte, wo die Bauernhöfe dieser
Stiftung sind. Dort konnte ich dann die 30 Schafe übernehmen,
was nicht immer leicht war. Oft gingen sie genau dann ab, wenn ich
mich ausruhen wollte; so musste ich halt aufstehen und sie suchen
gehen. Ich rebellierte in solchen Momenten gegen die Arbeit und
die Therapeuten und sang Lieder von okkulten Gruppen. Zum Glück
klickte es dann doch und ich merkte, dass ich diese Therapie für
mich und nicht für den Staat machte. Auch merkte ich, dass
mich Gott ganz frei gemacht hat und nicht nur halb.
Meine neuen Hobbies waren Lesen und Schreiben. Die
Rebellion und Probleme lernte ich zu lösen und nicht beiseite
zu fixen. Nach der Therapie verbrachte ich eine Zeit in einer Wiedereingliederungs-Wohngruppe
im Tessin.
Mein Wunsch war, einen neuen Beruf zu erlernen. Ich wollte ein Praktikum
in einem Buchladen absolvieren und ging in Lugano auf die Suche.
In einem christlichen Buchladen bekam ich tatsächlich ein Angebot.
Die Chefin meinte allerdings, dass ich mein Italienisch unbedingt
verbessern müsse. Nach einem Intensiv-Sprachkurs konnte ich
dann mein Praktikum beginnen. Nach zwei Monaten bot mir die Chefin
die Lehrstelle als Buchverkäufer an. Ich stimmte voller Freude
zu.
Wenn ich so nachdenke, wie Gott mich vom Letten
zurück in den normalen Alltag führte, wie ich wieder Disziplin,
Lebensfreude und Humor bekam, und das ohne einen einzigen Rückfall,
kann ich nur danken!
... und heute
Ich wohne in Novaggio und arbeite halbtags in einem
Missionswerk in Italien. Nachmittags arbeite ich in einem christlichen
Buchladen in Agno. Heute lebe ich frei von Suchtmitteln und besuche
die Bibelschule unserer Mission. Ich freue mich, dass ich bei Kongressen
und Evangelisationen in Italien mitwirken darf.
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